11. März 2010 | Altes Rathaus Hannover | Dieter Bartetzko u.a.

Die Zweideutigkeit des erhobenen Zeigefingers

Zwei Tage nach dem Attentat auf Rudi Dutschke warnte Gustav Heinemann, der Justizminister der ersten Grosen Koalition, am Ostermontag des Jahres 1968: „Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwurfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zuruckweisen.“ Als nahezu einziger etablierter Politiker zeigte Heinemann Verstandnis für die rebellierenden Studenten und mahnte, man solle ihre Forderungen anhören und gegebenenfalls aufgreifen.

Es war die Zeit, in der nicht nur Jugendliche gegen autoritäres Denken und Verhalten der jungen Bundesrepublik aufbegehrten. Neben vielem anderen galt ihr Widerstand auch dem Bauen im Staat. Vier Jahre nachdem Margarete und Alexander Mitscherlich ihre Analyse der „Unwirtlichkeit unserer Städte“ mit der Zeile „Anstiftung zum Unfrieden“ untertitelt hatten, war dieser Unfrieden da. Er bezog sich vorrangig auf den Wiederaufbau, dessen Ergebnisse ebenfalls im Jahr 1964 der Titel von Wolf Jobst Siedlers Berlin-Buch „Die gemordete Stadt“ polemisch zusammengefasst und zum geflügelten Wort gemacht hatte. Obwohl sie bis Ende der Siebzigerjahre unbeirrt an den städtebaulichen und gestalterischen Prinzipien des Funktionalismus festhielten, hatten die Architekten, Ingenieure, Planer und Designer der Wiederaufbaugeneration abgewirtschaftet.

Damit wurde Hannover, das dem Wirtschaftswunder als Musterbeispiel der autogerechten Stadt und der mustergültig freien, demokratischen Stadtlandschaft gegolten hatte, zum Synonym des architektonischen Versagens. Und Rudolf Hillebrecht, Hannovers Stadtbaudirektor, dem der Spiegel 1959 noch eine „Das Wunder von Hannover“ überschriebene Titelgeschichte gewidmet hatte, wurde bald darauf zur Personifikation aller Todsünden des modernen Städtebaus. Nach der Wende, die während der Achtzigerjahre die bild- und zitatverliebte, Blockrandbebauung und steinverkleideten Lochfassaden huldigende Postmoderne in Deutschland herbeigeführt hatte, schienen Rudolf Hillebrecht und sein Ideal der „frei schwingenden“ Stadt so vergessen wie Le Corbusiers notorisch funktionalistische „Charta von Athen“.

Doch in jüngster Zeit riefen die heftigen Debatten um die Rekonstruktion von Schloss Herrenhausen – Erbe der postmodernen Rekonstruktionseuphorie – Rudolf Hillebrecht ins allgemeine Gedächtnis zurück. Die zahllosen Befürworter eines detailgetreuen Nachbaus des Verschwundenen erneuerten die Vorwürfe der Fünfzigerjahre, während derer Anhänger eines traditionsbewussten Wiederaufbaus von Hannover dem damaligen Stadtbaudirektor den blindwütigen Abbruch dutzender erhaltenswerter und wiederaufbaufähiger Denkmaler vorgeworfen hatten.

In jüngster Zeit trat die ebenso hitzige öffentliche Diskussion um den geplanten radikalen Umbau des Leineschlosses hinzu. Mit der Frage, ob der 1957 von Dieter Oesterlen entworfene, inzwischen denkmalgeschützte Plenarsaal samt anderer moderner Innenausbauten des als Niedersächsischer Landtag wiederaufgebauten Schlosses abgerissen werden solle oder nicht, kam auch Rudolf Hillebrecht, der Oesterlen großzügig gefordert hatte, wieder ins Gespräch – diesmal aber als Förderer einer großzügigen, ansehnlichen, beachtens- und erhaltenswerten Architektur der frühen Jahre.

Was Wunder also, dass die Lavesstiftung ihre Veranstaltungsreihe „Architektur im Dialog“ nutzte, um mit einer Podiumsdiskussion anlässlich des hundertsten Geburtstags von Hillebrecht im brechend vollen Festsaal des Alten Rathauses zu fragen „Was bleibt von Rudolf Hillebrecht?“

Wer ähnlich betonharte Fronten wie bei den Auseinandersetzungen um Herrenhausen und den Landtag erwartet hatte, sah sich angenehm enttäuscht: man bemühte sich um Besonnenheit, Gerechtigkeit und abwägende Bewertung.

Für den ersten, kolossalen Verblüffungseffekt sorgte der Architekt und Stadtplaner Thomas Sieverts, dessen früher Werdegang geprägt war von Le Corbusiers Ideen und Hillebrechts Taten. Selbstkritisch und freimutig wie der eingangs zitierte Gustav Heinemann erklärte Sieverts, im Ruckblick erkenne er die städtebauliche Praxis der Fünfziger- und Sechzigerjahre als einen Bildersturm. Die Befreiung vom NS-System, das Abschütteln der architektonischen Zwangssysteme Achse, Symmetrie und Monumentalismus habe dazu geführt, mit vergleichbarer Heißglut die neue, von der braunen und der wilhelminischen Vergangenheit befreite Stadt zu schaffen.

„Man wusste, was die Bedürfnisse des Menschen waren“: Sieverts kopfschüttelnder Ruckblick, in dem Le Corbusiers haarsträubendes „Wer, wenn nicht der Architekt, wusste, was das Beste für den Menschen ist?“ mitklang, bestätigte auch Ekkehard Bollmann, ein Nestor hannoveranischer Architekten und Planer. Er erinnerte sich an die „Constructa 1“, die vielbeachtete Bauaustellung von 1951, in der Hillebrecht die ersten Ergebnisse und weiterführende Planungen zum Wiederaufbau Hannovers präsentierte.

Selbstverständlich, so Bollmann, sei man mitgerissen worden vom sprichwörtlichen „freien Schwung“ der geschmeidigen Achsen, zu denen Hillebrecht die überkommenen Hauptverkehrsstraßen ausgeweitet habe. Und man sei begeistert gewesen vom zwanglos „fließenden Raum“, der das alte engmaschige Netz aus Mietskasernen und Straßen ersetzt habe.

Aus dem allgemeinen Bewusstsein geschwunden sei auch, dass Deutschlands Architekten, ebenso wie die Kommunen, den bedingungslosen Abschied von der alten Stadt und einen betont sachlichen, gleichsam friedfertigen und demütigen Wiederaufbau als Sühne für und Abkehr von der menschenverachtenden Hybris und Geschichtsklitterung des „Dritten Reichs“ gesehen hatten.

Eine Moderne mit erhobenem Zeigefinger: so durften bisher wenige den kargen „International Style“ der jungen Bundesrepublik gesehen haben. Als eine weitere, heute unterschätzte treibende Kraft des damaligen Städtebaus nannte Bollmann die in jener Ara noch frischen Erinnerungen an den Bombenkrieg und seine Folgen für die Bevölkerung. In Rudolf Hillebrecht hatten sie sich zum Trauma verdichtet, das ihn fortan nicht anders als in großzügig durchgrünten, weitläufigen Stadtgebilden denken lies. Mit der Distanz der Enkelgeneration und des soziologisch versierten Kunst- und Architekturhistorikers betonte Thorsten Scheer von der Düsseldorfer „Peter Behrens School of Architecture“ Hillebrechts enormes Talent für „differenzierte Stadtraume“. Dirk Meyhofer, Hamburger Architekturkritiker und in etwa derselben Generation angehörend, pflichtete ihm bei. Er verglich überdies Hannover mit Hamburg, das ähnlich radikal modern und weiträumig wiederaufgebaut hatte. Was in der Millionenstadt, so Meyhofer, sich zwangsläufig oft zu beklemmender Grenzenlosigkeit und Anonymität auswuchs, blieb im letztlich noch überschaubaren Stadtgebiet Hannovers erkenntlich als Musterbeispiel der transparenten, gleichsam locker-lässigen Stadt.

Freier Raum für freie Bürger? Trotz aller Einschränkungen mündeten die Stellungnahmen zu Hillebrechts Werk in dieser vorsichtig anerkennenden Lösung, die auch das ausdrückliche Lob für die scheinbar leger verteilten Solitäre der Ara Hillebrecht einbezog, von denen einige Verwaltungs- und Kulturbauten zum Besten der Fünfzigerjahre-Moderne der Bundesrepublik zählen.

Was aber bleibt? Zu einem „Weiter so“, das die vielen zustimmenden Bewertungen nahelegten, konnte sich das Podium nicht durchringen. Zu schwer, so die aktuellen Verweise, lasten die Prognosen der schrumpfenden Stadt, der unmittelbar bevorstehenden demografischen Umwälzungen, die Notwendigkeit zu Nachverdichtung, energetischem und auch traditionsbewusstem Bauen auf dem heutigen Städtebau. Immerhin – aus Untertonen und Nebensätzen war herauszuhören, dass Hannover besonnen mit dem Pfund weiterwuchern solle, als eine von wenigen deutschen Städten die Ideale der frei schwingenden Stadtlandschaft in extenso verwirklicht zu haben.

„Hannover 2020“, das neue Projekt der Stadt, konnte das Mittel sein, einen Mittelweg zwischen der aktuellen, auf die Traditionen des 19. Jahrhunderts fixierten allgemeinen Nostalgie und den befürwortenswerten Idealen der Wiederaufbaumoderne zu finden. So blieb man zwar alles in allem der Frage, was bleiben wird, die Antwort schuldig. Dafür aber wurde umso deutlicher, was, mit allem Licht und Schatten, bisher von Hillebrechts Utopien blieb – und dass bei Planern und Architekten endlich die Botschaft Gustav Heinemanns angekommen sein durfte, dass, wer auf andere zeigt, immer auch auf sich und das eigene Verschulden weist. Das Plenum nahm es aufatmend zur Kenntnis – schließlich ist es lange her, dass Hannovers Bauen derart viel Zustimmung erfuhr.

Dieter Bartetzko - Der Autor ist Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Fotos: Nancy Heusel